Turrja Schattenlied
Die Legende einer Norn
Part 1 - Roter Schnee
"Großvater! Bitte lass uns noch einmal die Legende von Turrja Schattenlied hören!" -"Nun gut!" antwortete Skjalv Starkschild und legte einen weiteren Holzscheit in das leise knisternde Kaminfeuer, welches das Langhaus an diesem verschneiten Winterabend wärmte.
"Die Geschichte trug sich vor langer Zeit zu, als sich unser Volk auf der Flucht vor dem Altdrachen Jormag durch die Zittergipfel kämpfen musste. Die Welt wurde von den Drachen und ihren Dienern überschwemmt. Damals wurden weite Landstriche, Wälder und Dörfer verwüstet. Finstere Wesen trieben sich des Nachts umher und versetzen die Bewohner ganz Tyrias in Angst und Schrecken. Somit machten sich die Norn in Flüchtlingszügen auf den Weg und zogen monatelang über steile Gebirgspässe, durch karge Ebenen und über zugefrorene Seen einer neuen Heimat entgegen.
Die letzte Jahreszeit hatte bereits eingesetzt, die Nächte waren lang und dunkel. In jenen düsteren Tagen trug es sich zu, dass Elva Heilsang, eine junge Nornfrau aus Sifhalla, sich während einer eisigen Vollmondnacht in jenem schicksalhaften Lager in Sicherheit wiegte, in dem viele unseresgleichen den Tod finden sollten. Dies ist der Ort an dem die Legende beginnt."
Es war kalt in dieser Nacht, der Himmel war sternenklar und ein voller Mond warf lange Schatten über den naheliegenden Forst. Leichte Nebelschleier hatten sich über die Ebene gelegt. Zum Schutz vor dem eisigen Wind der Eisebene hatten die Flüchtigen ihr Nachtlager am Rand des Waldes aufgeschlagen. Elva hatte sich auf einem der Proviantwägen in einige Felle gewickelt und lauschte den leisen Gesprächen der anderen. In ihrem Schoß wärmte sie ihre kleine Tochter Turrja, die als kleines Bündel in Decken gehüllt vor sich hin schlummerte. Nur das kleine Gesicht und einige dunkelrote Haarsträhnen lugten zwischen den Decken hervor. "Dieses Baby schläft wahrlich gern und viel!" dachte Elva. "Kein Wunder, dass die anderen schon witzelten man solle das Kind Turrja Schlummergern nennen". An einem nahegelegenen Feuer erzählte einer der Skalden gerade die Legende der großen Bärin. Elva kannte diese Geschichte wie jeder andere Norn von Kindesbeinen auf auswendig, doch lauschte sie ihr immer wieder gerne. Gedanken versunken stellte sie sich vor wie eine leuchtende Geistergestalt in Form einer bläulich schimmernden Bärin gegen die Horden der Drachendiener zog und diese vertrieb. Ein hoffnungsvolles Bild… welches jäh durch den Aufschrei eines Signalhornes zerfetzt wurde. Sofort wurde das Signal von der anderen Lagerseite her erwidert. Schlagartig kam Bewegung in das Lager. Krieger sprangen auf und griffen zu den Waffen, Frauen und Kinder rannten hektisch zu den Wägen um sich zu verstecken. Einige Herzschläge später klang bereits Kampfeslärm und Schreie durch das Lager. Die Anhänger Jormags griffen an. Welle für Welle drangen untote Eiswesen und Elementare weiter in das Lager ein. Viel zu Zahlreich und zu schnell überrannten die Angreifer das fast wehrlose Lager. Es war mehr ein Abschlachten denn ein fairer Kampf. Ein einzelner Nornkrieger fand sich einer Übermacht von mindestens einem halben Dutzend Gegnern gegenüber. Mit jedem Atemzug starben mehr und mehr Flüchtlinge unter der Wut der blutrünstigen Kreaturen. Chaos machte sich breit. Die ersten Verteidiger begannen panisch in die Ebene zu rennen, wo sie vom feindlichen Nachschub in eine tödliche Falle gelockt wurden. Wägen und Rationen wurden in Brand gesetzt. Es gab kein Entkommen. Plötzlich wurde die Plane, unter welcher Elva sich verstecke, zurück gerissen und ein blutig zerschnittenes Gesicht blickte sie entsetzt an. Sie erkannte den Krieger an dem Wappen auf seiner Rüstung. "Halkar…!" stammelte sie. Sie konnte den Blick nicht von den grausamen Wunden abwenden und begann zu zittern. "Wald…lauft…Sicherhei…" der Krieger sackte in sich zusammen. Elva blickte panisch über die Szenen, welche sich um sie herum abspielten. Nahezu das ganze Lager war nun in der Hand der Feinde. Die schneebedeckte Erde verfärbte sich zusehends mit dem Blute der Toten und Verwundeten. Verzweifelt blickte sie zu dem nahegelegenen Wald, ihrer einzigen Hoffnung. Sie holte tief Luft, drückte das kleine Bündel fest an sich, sprang aus dem Wagen und rannte um ihr Leben, der Dunkelheit der Bäume entgegen.