Turrja Schattenlied
Die Legende einer Norn
Part 2 - Überleben
Längst hatte Elva das Lager und die Schreie der Sterbenden hinter sich gelassen. Sie hatte jegliches Gefühl für Zeit und Entfernung verloren, dennoch traute sie sich nicht über die Schulter zu blicken und setze weiterhin einen Schritt vor den anderen. Mittlerweile war sie während ihrer Flucht weit in den dunklen Forst eingedrungen. Durch die Kronen der hohen Bäume drang nur schwaches Mondlicht und tanzte zwischen den bedrohlich langen Schatten der eng gedrängten Stämme des Waldes hindurch. Noch immer hielt die Norn das kleine Bündel fest in ihren Armen, aus dem zwei kleine verschlafene Äugelein blinzelten. "Du bist wohl die einzige Norn, die ihre erste große Schlacht verschlafen hat," stellte Elva mit dem Anflug eines Lächelns fest. Es grenzte an ein Wunder, doch die kleine Turrja hatte während der ganzen Flucht keinen Laut von sich gegeben, als hätte das Baby geahnt, dass es sich verstecken musste. Plötzlich lichtete sich der Wald um sie herum, und Elva fand sich am Rand einer kleinen Lichtung wieder, in deren Mitte ein einzelner kahler Baum stand. Behutsam lauschte sie in die Nacht hinein und beschloss, sich den Baum näher anzusehen. Es handelte sich um einen sehr alten Baum mit dicken verflochtenen Wurzeln, welche sich rund um den Grund des Stammes rankten. Seine Blätter hatte der Baum zu dieser Jahreszeit abgeworfen, was ihm im Mondschein ein unnatürliches und totes Aussehen verlieh. "Ein guter Ort um sich im Schutz der Wurzeln zu verbergen", dachte Elva. Zudem konnte sie von hier aus die freie Fläche bis zum gegenüberliegenden Dickicht überblicken. So kauerte sie sich unter einer der Wurzeln zusammen, das Kind eng an sich gedrängt, den Blick starr auf den gegenüberliegenden Waldrand gerichtet.
Elva zuckte zusammen. Sie brauchte einen Moment um sich wieder zu orientieren. Die Müdigkeit musste sie übermannt haben und sie war eingedöst. Doch etwas stimmte nicht. Die Umgebung hatte sich verändert. Es war viel dunkler geworden, der Mond schien sich hinter dunklen Wolken zu verbergen, so als wolle er sein Angesicht von dem Geschehen in der Welt abwenden. Seichte Nebelschleier hatten sich über den Grund der Lichtung erhoben. Doch da war noch etwas, das die Norn erschaudern lies. Stille. Eine tiefe Stille, wie sie sie noch nie vernommen hatte. Keine Tiere, keine Bäche, nicht einmal der Wind war zu hören. Die Umgebung wirkte auf bizarre Art und Weise erstarrt. Elva wagte kaum zu Atmen und starrte weiter angestrengt durch die Nebelschwaden. Dort! Elvas Herz machte einen schmerzhaften Satz. Etwas bewegte sich durch das Unterholz am Rand der Lichtung. Oder handelte es sich bloß um eine Sinnestäuschung? Alles war so undeutlich und schemenhaft. Doch dann nahm sie eine zweite Bewegung wahr. Was sich auch immer dort herum trieb, es waren mehrere. Plötzlich trat eine der Erscheinungen auf die Lichtung und Elva musste einen panischen Aufschrei unterdrücken. Sie sah ein stierähnliches Wesen, welches von einer Aura aus tiefschwarzen Schleiern umgeben war. Sie hatte Erzählungen zu diesen Dämonenwesen gehört, welche sich nachts durch geisterhafte Portale bewegen konnten, doch waren sie so selten, dass viele nicht an ihre Existenz glaubten und sie als Märchen abtaten. Ihr Volk nannte diese Wesen Nachtschatten. In den Geschichten der Menschen wurden sie als Aatxe bezeichnet, einem sehr alten Wort, welches so viel bedeutete wie Seelenfresser. Das Wesen fixierte den Baum unter welchem sich die Flüchtigen verbargen und in seinen Augenhöhlen entflammten grünlich leuchtende Flammen. Nun hatte auch die kleine Turrja die Veränderungen in der Umgebung wahrgenommen und begann leise zu wimmern. Der Aatxe setzte sich in Bewegung um sich den Beiden Schritt für Schritt zu nähern. Mit jedem Pulsschlag schien die Luft kälter zu werden und Elva konnte kleine Kältewölkchen vor ihrem Mund tanzen sehen. Verzweifelt versuchte sie das Kind durch Flüstern zu beruhigen. Doch es war bereits zu spät, weitere Wesen traten aus der Dunkelheit der Bäume und näherten sich ihnen aus verschiedenen Himmelsrichtungen. Sie waren entdeckt.
Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Selbst wenn die Norn gewollt hätte, die grausige Kälte und eine unsichtbare Macht schienen ihre Glieder fest zu halten. Sie zitterte am ganzen Leib und begann verzweifelt zu schluchzen. Das Baby in ihren Armen begann laut zu schreien. Einer der Schatten hatte sie fast erreicht und stieß ein tiefes Grollen aus. Auch aus seinem Maul züngelten jetzt grüne Flammen. Elva schloss die Augen. Blitzschnell stießen die Kiefer des Schattens zu. Die Zähne des Seelenfressers verursachten keine blutende Wunde doch ein unsagbarer Schmerz pochte durch Elvas Geist. Sie war unfähig noch einen klaren Gedanken zu fassen. Weitere Wesen waren näher heran gekommen und peinigten ihre Seele. Sie hatte das Gefühl von innen zerrissen zu werden. Unter all der Qual betete sie für ein schnelles Ende. Elva wurde schwarz vor Augen und ihr Körper erbebte in einem letzten Versuch sich zu wehren. Plötzlich spürte sie eine kleine Hand, die sich in ihre Haare klammerte. Turrja! Aller Schmerz war plötzlich nebensächlich. Die Norn hatte Frieden mit ihrem Schicksal geschlossen und konzentrierte sich nur noch auf das kleine Bündel, in dem ihre Tochter lag. Elva konzentrierte sich und versuchte der Pein der Aatxe zu trotzen. Sie begann zu Singen.